Ein vergessener Völkermord
In diesem Jahr gedenken die Armenier am 24. April des 100. Jahrestages ihrer geplanten Vernichtung 1915 in der Türkei. Aber auch andere christliche Volksgruppen sind damals zur Vernichtung bestimmt worden. Im Gegensatz zu dem Schicksal der Armenier ist das Los der 1915 ebenfalls vom Völkermord betroffenen syrisch-orthodoxen, syrisch-unierten, nestorianischen, chaldäischen und protestantischen Assyrer aramäischer Muttersprache in Anatolien in Europa fast unbekannt geblieben.
Dabei hatten manche Dokumentationen über die Armenier auch das Leid der Assyrer behandelt. „Der Unterschied zwischen den Armenier-Massakern und den Assyrer-Massakern liegt darin“, so schreibt Rev. Dr. W. A. Wigram schon 1920, „dass im ersten Fall alles mögliche unternommen wurde, es in der Welt bekannt zu machen, während im zweiten Fall jede mögliche Vorsicht gewaltet hat, diese traurige Tatsache zu verschweigen“.
Wie die Juden von ihrer Shoah und die Armenier von Aghet sprechen, so sprechen die Aramäer von Seyfo, dem Jahr des Schwertes, wenn sie vom Jahre 1915 und dem Völkermord sprechen. Die Aramäer verschiedener Konfession hatten erst im 19. Jahrhundert begonnen, über konfessionelle Trennung hinweg ein „assyrisches“ Nationalbewusstsein zu entwickeln und das Neuaramäische bzw. Neusyrische als Nationalsprache neu zu beleben.
Aramäisch war die Muttersprache Jesu, in der er seinen Aposteln und uns das Vaterunser lehrte. Seit der Babylonischen Gefangenschaft war aber bei den Juden das Hebräische nur noch die Sprache der Bibel und der Gottesdienstes. In christlicher Zeit wurde in der syrischen Kirche das Aramäische durch die Bibelübersetzung und die Verwendung in der Liturgie eine bedeutende Literatursprache und wurde meist als Syrisch bezeichnet. So ist Aramäisch und Syrisch gleichzusetzen und hat nichts mit der heutigen Staatssprache Syriens zu tun, die Arabisch ist.
Seit 1915 wurde im Ersten Weltkrieg eine halbe Million dieser Christen ermordet, die Überlebenden flohen in den Irak, nach Syrien oder in den Libanon. Sie wurden von Engländern und Franzosen politisch und militärisch missbraucht und die Männer noch im Zweiten Weltkrieg als Kanonenfutter verheizt. Assyrische Einheiten wurden von den Engländern zur Niederschlagung von Aufständen im Irak eingesetzt, was die Feindschaft zwischen Christen und Muslimen vertiefte. 1944 kämpften Assyrer für Großbritannien auch in Italien bei den Kämpfen um Montecassino.
Bereits im März 1915 wurden 70 assyrische Dörfer von der Osmanischen Armee im Westiran und in Ostanatolien zerstört. Kurdische Freiwillige plünderten mit türkischen Einheiten und säuberten diese Gebiete ethnisch. Unter den Berichten der deutschen Konsuln aus Ostanatolien und Mesopotamien über die Gräueltaten an den Armeniern tauchen immer wieder auch Hinweise auf Nestorianer, Chaldäer und andere syrische Christen auf, derer sich die Türken auf diese Weise entledigen wollten. In einem Telegramm an den Reichskanzler vom 12. August 1915 stellt der damalige Vertreter des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Fürst Hohenlohe-Langenburg, fest, dass „an gewissen Plätzen, wie in Mardin, ...alle Christen ohne Unterschied der Rasse und Konfession dasselbe Schicksal erlitten“ (wie die Armenier).
Am 15. Juli hatte bereits der deutsche Vizekonsul Holstein aus Mossul an die deutsche Botschaft in Pera telegrafiert, dass „die ausschließlich aus chaldäischen Christen bestehende Bevölkerung massakriert wurde“.
Am 21. Juli 1915 telegrafiert er von neuem an die Deutsche Botschaft: „Hier sind bisher rund sechshundert Frauen und Kinder (armenische, chaldäische, syrische) eingetroffen, deren männliche Verwandte massakriert worden sind; ebenso viele werden in den nächsten Tagen erwartet. Das Elend dieser Menschen ist nicht zu beschreiben, ihre Kleider verfaulen ihnen am Leibe; täglich sterben Frauen und Kinder Hungers...“.
Schon seit 40 Jahren kamen Zehntausende von aramäischen Christen aus dem Osten der Türkei nach Europa. In verschiedenen Staaten der Europäischen Union leben heute über Hunderttausend Christen mit assyrischer Muttersprache, auch in Deutschland. Sie haben sich in zahlreichen Kulturvereinen organisiert, haben eigene Pfarreien, pflegen die Sprache, geben Zeitungen heraus und sind im Internet vertreten.
Seit der amerikanischen Besetzung des Iraks flohen Hunderttausende von aramäisch sprechenden Christen aus ihrer alten Heimat im Zweistromland. In der Ninive-Ebene im Nordirak verlieren sie heute durch den Terror des Islamischen Staates das letzte Gebiet, in dem sie im Irak noch eine Mehrheit hatten. So gibt es heute mehr Aramäer in den USA und Europa als im Orient. Ein ähnliches Schicksal wie im Irak erleiden sie heute in Syrien.
Das Hilfswerk „Kirche in Not“ hat nicht nur seit Jahrzehnten die Christen im Irak und in Syrien unterstützt, sondern auch für die assyrischen Christen in der Emigration schon die alte Fassung der Kinderbibel, dann aber auch die Neuausgabe in Westassyrisch und Ostassyrisch herausgegeben. Beim Sudetendeutschen Tag 2007 in Augsburg sang ein assyrischer Chor mit Kathy Kelly das Vaterunser in Jesu Muttersprache.
Rudolf Grulich