Der Prager Franz Werfel und die Armenier
Utl.: Ein Buch über Völkermord und Vertreibung
In diesem Jahr begehen die Armenier in aller Welt den 100. Jahrestag des Völkermordes im Osmanischen Reich. 1934 erschien in Wien und Berlin der Roman Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Wie kaum ein Historiker hat der Prager Schriftsteller dazu beigetragen, dass die Tragödie der Armenier von 1915 nicht vergessen wurde.
In einer „Nachbemerkung des Autors“ schreibt Werfel in der Erstausgabe zu seinem Roman: „Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.“ Als Werfel 1929 in Syrien war, beherrschten noch die Franzosen als Mandatsmacht das Land. Damals gehörte auch das Gebiet um den Musadağ zu Syrien, aber 1939 kamen die heutige Provinz Hatay und der Musadağ an die Türkei.
Werfels Roman fußt auf der historischen Grundlage, dass sich im Sommer 1915 die Bewohner einiger armenischer Dörfer bei Antakya auf den Musadağ (so die heutige türkische Schreibweise), auf den Moses-Berg zurückgezogen hatten und alle Angriffe türkischer Einheiten abwehren konnten, bis sie nach 40 Tagen von einem französischen Kriegsschiff gerettet und nach Alexandrien gebracht wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrten sie in ihre Dörfer zurück, weil Syrien französisches Mandatsgebiet war. Doch 1938 überließen die Franzosen das Gebiet um Antakya und Alexandrette (heute Iskenderun) der Türkei. Die meisten Armenier verließen damals ihre Dörfer auf dem Musadağ. Nur wenige blieben am Musadağ, und zwar in Vakifliköyü, das heute das einzige armenische Dorf der Türkei ist. Nur mit geländegängigen Fahrzeugen gelangt man dort hin, entweder von Samandağ aus oder über Teknepinar. Während in Teknepinar nur die Ruine der einstmals großen armenischen Kirche steht, gibt es in Vakifliköyü noch eine 1997 renovierte Kirche und einen Friedhof. In den Sommermonaten betreute ein Priester aus Istanbul die kleine Gemeinde, seit einigen Jahren hält ein junger Priester aus Iskenderun die Gottesdienste.
Erst 1997 ist Werfels Roman auch in der Türkei in türkischer Übersetzung erschienen. „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ sind kein antitürkisches Buch, denn Werfel lässt in diesem Werk auch Nezim Bey sprechen: „An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehen“, und er lässt ihn gegenüber dem deutschen Pastor Dr. Johannes Lepsius fragen: „Wissen Sie, daß die wahren Türken die armenischen Verschickungen noch heftiger verwerfen als Sie?“ Durch Nezims Vermittlung und auf Rat des armenischen Patriarchen kann Lepsius auch den muslimischen Scheich Ahmed und dessen Derwisch-Orden besuchen. In dem Gespräch der beiden wird der „Nationalismus, der heute bei uns herrscht“, als Ursache genannt, „ein fremdes Gift, das aus Europa kam. Vor wenigen Jahrzehnten lebten unsere Völker treu unter der Fahne des Propheten: Türken, Araber, Kurden, Lasen und andere mehr. Der Geist des Korans glich die irdischen Unterschiede des Blutes aus.“
Der alte Scheich erklärt Lepsius: „Der Nationalismus füllt die brennend-leere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurückläßt, wenn er daraus vertrieben wird.“
Werfel lässt ferner einen türkischen Hauptmann, der Mitglied des Ordens ist, berichten, dass er mehr als tausend armenische Waisenkinder in türkischen und arabischen Familien unterbrachte. Schließlich bringen Derwische sogar etwas Hilfe für die belagerten Christen auf den Musadağ.
Heute leugnet die türkische Regierung leider die Tatsache dieses Völkermordes. Dass müsste eigentlich verwundern, denn wenig bekannt ist bis heute, dass es 1919 auf Druck der alliierten Mächte in Istanbul Kriegsverbrecherprozesse gegen türkische Politiker gab, um den Völkermord an den Armeniern zu untersuchen und die Verantwortlichen zu bestrafen. Der türkische Wissenschaftler Taner Akçam hat diesen kaum beachteten Vorläufer der Nürnberger Prozesse auch dem deutschen Leser zugängig gemacht. Die Hauptangeklagten von 1919, Enver Pascha, Cemal Pascha und Talat Pascha, konnten mit deutscher Hilfe fliehen und sich in Berlin frei bewegen wie nach 1995 die Kriegsverbrecher Karadžić und Mladić in Serbien. Zwar wurden in Istanbul Urteile gefällt und gegen einzelne Angeklagte sogar Todesurteile vollstreckt, aber die alliierten Pläne zur Aufteilung Anatoliens und die griechische Besetzung Izmirs 1919 mit den schrecklichen Übergriffen gegen türkische Zivilisten riefen den türkischen Widerstand gegen die „Siegerjustiz“ hervor. Die „nationale Souveränität“ der Türkei siegte danach über die Zustimmung zu diesem Prozess, als die griechische Landung in Izmir mit den Massakern an der türkischen Zivilbevölkerung nicht geahndet wurde, ja die Griechen noch weiter vorrückten. Hatten zunächst sowohl die Osmanische Regierung in Istanbul als auch die Nationalbewegung in Anatolien Bereitschaft gezeigt, die Verantwortlichen des Völkermordes zu bestrafen, so verschwand nach den Morden in Izmir diese Bereitschaft sehr bald. „Das Recht hat jetzt die Seite gewechselt“, sagte Winston Churchill schon nach der Landung der Griechen in Izmir, „Die Gerechtigkeit, dieses ewige Flüchtige aus den Räten der Eroberer, ist in das gegnerische Lager übergelaufen.“ Seitdem leugnet die Regierung der Türkei bis heute die Armeniermassaker und stellt sie als Folge des Ersten Weltkrieges dar, als Kollateralschäden.
Als 1933 Werfels Roman erschien, lenkte er sofort den ganzen Hass der NS-Machthaber auf sich. Er wurde von den Nazis aus der Preußischen Dichterakademie ausgeschlossen, sein Roman verfemt. Dabei entspricht Werfels Darstellung den Ereignissen des Jahres 1915, lediglich die Gestalt des Helden Gabriel Bagradian entspringt der Idee des Autors. Werfel wollte mit Bagradian „einen Helden schildern, wie er ihn sich vorstelle, den türkischen Nationalismus beleuchten und die Geschichte der armenischen Gräuel berichten.“ Da die Figur Bagradians Werfels Idee ist, muss deshalb der Held auch am Ende des Buches sterben und erlebt nicht mehr die Rettung der 4058 überlebenden Armenier vom Musadağ durch die französischen Kriegsschiffe. Das Buch Werfels wurde ein Schicksalsbuch aller rassisch Verfolgten. Die englische Übersetzung machte es weltbekannt. In New York und Paris wurde Werfel in den armenischen Kolonien gefeiert. Bis heute würdigen Armenier den Roman „als ein einzigartiges und für uns Armenier wertvolles Werk.“
1966 konnte ich in Syrien, im Libanon und Jerusalem noch mit Überlebenden sprechen, die als Kinder und Jugendliche 1915 auf dem Musadağ waren oder als junge Erwachsene Werfel 1929 in Damaskus trafen. Heute ist dies alles Geschichte. Aber Werfels Roman lebt als ein Buch der Weltliteratur. Vertreibungen und Völkermorde erleben wir noch heute.
Papst Franziskus hat die Armeniertragödie als Völkermord bezeichnet, die deutsche Regierung bis heute nicht.
Rudolf Grulich